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Brief an Deutschland

of: Franz Josef Wagner

Diederichs Verlag, 2010

ISBN: 9783641050573 , 160 Pages

Format: ePUB

Copy protection: DRM

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Price: 13,99 EUR



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Brief an Deutschland


 

"Für Liv (S. 3-4)

Normalerweise brauche ich für die Kolumne „Post von Wagner“ein, zwei Stunden. Es ist für mich finanziell und geistig absolut tödlich, einen Monat lang über einen ersten Satz nachzudenken. Den ersten Satz für diesen Brief. Es ist jetzt 18 Uhr 27, im Haus gegenüber kehren Ehemänner/-frauen heim, ich habe sie schon morgens gesehen, als sie das Haus verließen und ich über dem ersten Satz saß. Gegenüber gehen jetzt die Lichter aus. Es ist 0 Uhr 21.

Niemand wird die Schlafenden wecken, keine Gestapo, keine Stasi. Ist das ein guter erster Satz? Deutsche schlafen sicher. Nehmen wir an: Eine Naturkatastrophe hätte Deutschland vernichtet und ich wäre der letzte Deutsche. Und die große Stimme fragt mich: Warum willst du als Deutscher überleben? Was würde ich in meiner Not antworten? W

Luther, Heine, Beethoven, Goethe, Humboldt, von Stauffenberg, wegen der Heldenstadt Leipzig? Ist das ein guter Anfang? Ich denke, der beste Satz ist die Wahrheit. In meinem Pass steht unter Staatsangehörigkeit: deutsch. Größe: 190 cm. Augenfarbe: blaugrau. Geburtsort: Olmütz. Olmütz hat mit Deutschland genauso viel zu tun wie Paris, Texas mit Paris, Frankreich. Olmütz, tschechisch Olomouc, ist eine Stadt in Mähren. Von ihrem Entbindungsbett hatte meine Mutter einen schönen Blick auf den Wenzelsdom. Mein Vater war bei meiner Geburt nicht dabei, aber sie bildete sich ein, ihn zu hören.

Zweimal täglich starteten die Flugzeuge des Wetterdienstes der deutschen Wehrmacht vom Militärflughafen Olmütz, um den Heeren im Osten das Wetter vorherzusagen. Sehr früh am Morgen und gegen Mittag. Ich bin mittags geboren. Ich habe meinen Vater, den nach Olmütz abkommandierten Wetterdienstassistenten, erst kennengelernt, als ich schon Rad fahren konnte. Ich bin ein Kind der amerikanischen Besatzungszone. Meine Mutter floh vor der heranrückenden Roten Armee, meinen eineinhalb Jahre älteren Bruder mit einem Strick an ihrem Handgelenk, mich an der Brust. Ihr Problem war als Sudetendeutsche, wohin sie fliehen sollte.

ur Ostsee, zur Nordsee, zu den Alpen? Gab es Deutschland überhaupt? Jeder Mensch hat einen Schuhkarton, einen Flohmarkt an Fotos. Ich habe zwei Fotos von meiner Mutter, sie sind bräunlich verfärbt. Wenn Fotos sterben, werden sie braun. Ich besitze das Hochzeitsfoto meiner Eltern. Wie ernst man damals in die Kamera sah. Ich habe das Foto, wie mich meine Mutter in die Luft wirft. Sie ist eine junge, glückliche Frau. Sie ist zweiunddreißig auf dem Foto. Man stelle sich heute eine Zweiunddreißigjährige vor, die ohne Bahncard, Mastercard, gültiges Geld, Handy mit zwei Kindern durch die Welt irrt."